„Und warum genau reitest du noch nicht?“
Der Titel dieses Blogbeitrags ist wohl eine der Fragen, die mir im letzten halben Jahr am meisten gestellt wurde. Hää, aber du reitest doch, werden einige jetzt denken. Ja, das stimmt, ich reite, aber ein ganz bestimmtes Pferd reite ich eben nicht. Wieso, weshalb, warum – darum soll es hier heute gehen.
Mein Eventmustang
Du weißt nicht, um welches Pferd es geht? Na, um meinen kleinen Mustang Willow. Kurz zum Hintergrund: Willow ist Ende April 2019 als mein Eventpferd für das Mustang Makeover Germany aus den USA nach Deutschland geflogen. Das Ziel des Events ist es, einen beinahe komplett untrainierten Mustang in etwa 120 Tagen auf das Finale in Aachen vorzubereiten. Dort stehen eine Handling Class, zwei Reitprüfungen und ein Freestyle auf dem Programm. Im Vordergrund stehen Partnerschaft und Harmonie zwischen den Trainern und ihren Mustangs. Wenn ein Mustang noch nicht weit genug in der Ausbildung ist oder in der Kulisse beim Reiten überfordert wäre, dürfen alle Prüfungen auch an der Hand absolviert werden.
„Vor Willow habe ich sowas nie gemacht!“
Willow war eine ziemlich harte Nuss, die mich vor erheblich Herausforderungen gestellt und meinen gesamten „Werkzeugkasten“ an Methoden, Übungen und Herangehensweisen gefordert hat. Letzten Endes bin ich damit gar nicht ausgekommen, sondern musste mir neue Ansätze aneignen. Upps, das typische „Neele erzählt von Willow“-Syndrom hat mich gerade gepackt, ich schweife vom Thema ab.
Mitte Juli war ich mit Willow soweit gekommen, dass die Grundvoraussetzungen, die ein Pferd erfüllen muss, bevor ich es reite, geschaffen waren. Er trug einen Sattel, ich konnte ihn vom Boden fahren, eine Lenkung war installiert, die Hinterhand und Vorhand konnten kontrolliert bewegt werden, und und und. Dann fing ich an ohne Sattel auf seinen Rücken zu hüpfen, drüber zu klettern, drauf zu liegen und auch zu sitzen. Nach einigen Tagen klappte all das super und ich fragte ihn das erste Mal nach einzelnen Schritten. Vorsichtig bewegte Willow ein Bein nach dem anderen und ich war absolut happy!
Unser erster Reitversuch
Am nächsten Tag ging es ins Roundpen, wo ich die ersten „richtigen“ Reitversuche starten wollte. Tja, nachdem es erst schon kurz ganz flüssig lief, kam es durch eine „Verkettung unglücklicher Umstände“ dazu, dass ich im Sand landete. Kann passieren, ein Indianer kennt keinen Schmerz und nach einem Sturz muss man direkt wieder aufsteigen. So kennen wir das doch alle, nicht wahr? Nächster Versuch, Willow lief wieder artig los, doch vermutlich waren wir beide ein wenig angespannter und so kam es, dass ich wieder im Sand landete, dieses Mal mit dem Gesicht voraus. Sand schmeckt ziemlich ekelig und in Kombination mit Sonnencreme auf der Haut, sieht man danach wirklich nicht mehr schön aus. (Das habe ich zum Glück erst gesehen, als ich drinnen im Bad war und unter die Dusche konnte.)
Weiter mit den schlauen Sprüchen: Aller guten Dinge sind drei. Ich bin also wieder raufgehüpft und wollte losreiten. Dieses Mal wollte Willow sich allerdings nicht mehr bewegen. Das mag sich jetzt vermenschlicht anhören, aber es war so, als wolle er sagen, dass Bewegung eine doofe Idee sei, weil ich dann jedes Mal runterfliege. Mehr Druck fand ich eine schlechte Idee, sodass wir für diesen Tag aufhörten.
Wir bleiben dran
In den nächsten Tagen und Wochen haben wir weitergeübt, die Basis nochmals aufgearbeitet, verbessert und uns die ersten Male gefragt, warum ich eigentlich noch nicht reite. Mit verschiedenen Trainern sind wir dieser Frage nach gegangen, haben Ideen ausgetauscht, überlegt, welche Grundvoraussetzungen noch geschaffen werden müssen, doch so eine richtige Antwort auf die Frage konnte mir niemand geben. Wir waren uns alle einig, dass da etwas ist, was noch fehlt, diesen Baustein konnte aber niemand benennen/erkennen.
Vor dem Finale des MMOs dachte ich, es wäre die Zeit. Doch als wir Willow nach dem Finale wieder mit nach Hause nehmen durften und einige Wochen vergangen waren, strich ich diesen Punkt von der Liste…Willow wurde mit jedem Tag besser und das ist auch heute noch so. Mit jedem Tag lebt er sich mehr in der Herde ein, verhält sich offener und neugieriger, läuft entspannter und losgelassener, reagiert „besser“ auf Reize von außen, meistert „gruselige“ Situationen sicherer und so weiter.
Wer beantwortet endlich meine Frage?!
Ende November war Alex Madl zu einem Kurs bei uns. Ich erklärte ihm die Situation, zeigte einige Videos und stellte Willow dann auch im Kurs vor. Alex hat in den letzten Jahren mehr als 1500 Pferde gearbeitet und häufig landen bei ihm jene Pferde, deeren Besitzer keine großen Hoffnungen mehr hatten. Alex geht bei allen (Trainings-)Pferden auf Ursachenforschung und eignet sich sehr viel Wissen zu den verschiedensten Themen an. Genau durch dieses Wissen und seine Erfahrungen, konnte er mir endlich sagen, warum ich denn eigentlich noch nicht reite!
Ein drei-Punkte-Plan?
Alex hat drei Punkte erkannt, die mir direkt einleuchteten und an denen wir nun seit November arbeiten.
Hengstiges Verhalten
Die erste Vermutung, die wir noch nicht weiter verfolgt haben, an der man aber auch nicht viel ändern kann ist folgende: Willow war laut seinen Dokumenten acht Jahre Hengst, bevor er im Herbst 2018 gelegt wurde. Bei einer Kastration kann es wohl vorkommen, dass nicht alles vollständig entfernt wird, besonders in Fällen, in denen die Pferde nicht absolut „klinisch“ abgelegt werden zur OP. Ich kenne die Kastrationsbedingungen der Mustangs in den USA nicht, kann mir aber gut vorstellen, dass es weit von deutschen Klinikstandards entfernt ist.
Natürlich ist Willow ein Wallach und kann definitiv keine Nachkommen mehr in die Welt setzen 😉 Aber unter Umständen könnten zu viele Hormone produziert werden, die eigentlich nicht mehr in dieser Menge da sein sollten. Dies führt dazu, dass diese Wallache nicht ganz in ihrem „neuen“ Leben ankommen und irgendwo zwischen einem Hengst und einem Wallach stecken. Alex kennt dieses Phänomen von vielen Hengsten, die aus Spanien kamen. Willow zeigt in der Herde absolut kein hengstiges Verhalten. Allerdings lässt er sich nicht gut und gerne vorwärts schicken, was wohl typisch für Hengste sein soll, allerdings hält sich meine Erfahrung mit Hengsten in Grenzen 😉
Physische Problemzonen
Der zweite Punkt ist ebenfalls physischen Ursprungs. Willow „hängt“ mit seinem Widerrist nach unten durch und dadurch entsteht ein riesiger Druck im Brustkorb. Ob es jetzt daran liegt, dass er in der Hinterhand überbaut ist, der Rumpftragemuskel zu schwach ausgeprägt ist oder eine andere Ursache vorliegt, kann ich euch nicht sagen. Dafür reicht mein anatomisches/physiologisches/… Wissen nicht aus. Fakt ist: Willow hängt durch und dadurch entstehen vermutlich so einige Schwierigkeiten.
Ein kleines Experiment für euch
Fahrt doch mal bei euren Pferden von der Bauchmitte aus die Gurtlage mit euren Händen nach oben. Normalerweise sollte sich das relativ eben und weich anfühlen. Und jetzt nehmt mal eure Hand, macht eine Faust und fahrt mit der anderen Hand über eure Fingerknöchel. Ziemlich hart und holprig, oder? Und genauso fühlt es sich bei Willow an. An einigen Tag mehr, an anderen weniger, aber immer sind da diese festen Stränge. Wenn wir jetzt bedenken, dass genau auf solchen Knubbeln der Sattel befestigt ist und die Gurtschnalle liegen, muss das unangenehm für das Pferd sein!
Gemeinsam mit ein paar Ansätzen von Alex, einigen Behandlungen und Übungen meiner Tierheilpraktikerin Julia Melcher und eigenen Ideen, kann ich diese Punkte inzwischen vor dem Satteln soweit lösen, dass Willow deutlich entspannter ist. Super gerne würde ich eine Lösung haben, um dieses Problem langfristiger und nachhaltiger lösen zu können, aber bisher haben wir noch nichts gefunden. Nach spätestens zwei Tagen hat Willow wieder diese harten Stränge. Ich gebe nicht auf, auch wenn Alex eher davon ausgeht, dass ich mich damit abfinden und leben muss. In seiner Karriere hatte er bisher etwa 10 Pferde die diese Problematik aufweisen. Alle waren sehr herausfordernd für ihn und bei keinem konnte er eine finale Methode zur Lösung der Stränge finden, auch wenn einige den Sprung ins Reitpferdeleben geschafft haben.
Energieniveau
Der dritte Punkt liegt definitiv an mir, war bereits mit anderen Pferden ein Punkt und Willow verstärkt das Ganze noch. Es geht um meine Energie und in unserem Fall um unser beider Energien. Ich glaube, dass ich meine Energie beim Reiten ziemlich gut kontrollieren kann und mich mit verschiedenen Pferden gut auf ein Energielevel einspielen kann, dass der jeweiligen Situation angemessen ist. Anders ist es in der Bodenarbeit. Schon im ersten Kurs mit Alex bei Amy war das Thema Energie ein Punkt, wenn auch nur am Rande. Häufig lasse ich mein Energielevel zu schnell fallen, wenn das Pferd die richtige Antwort gegeben hat.
Im Sommer durfte ich mit dem ehemaligen Lusitano von Arien Aguilar ein wenig in der Freiarbeit herumprobieren. Alegre kann wirklich viel, allerdings fiel es mir unglaublich schwer, meine Energie so zu nutzen, dass ich die auch nur einen Bruchteil aus ihm herausholen konnte. Ich musste super viel machen und habe nur winzige Reaktionen bekommen.
Ähnlich gestaltete sich das Thema auch mit Willow. Um auch nur ein wenig Vorwärtsbewegung von ihm zu erhalten, musste ich irre viel Energie einsetzen. Auf der anderen Seite kann ein winziger „Trigger“ ausreichen und Willow explodiert. Wir waren in einer kompletten Dysbalance unserer Energien. Über die Zeit haben wir zwei unsere Energieniveaus immer weiter heruntergeschraubt und aneinander angepasst. Eine ziemlich unschöne Spirale… Das Problem an der Sache? Spätestens wenn ich aufsteige und losreiten möchte, wird mein Energieniveau für Willow zu hoch sein und unter Umständen könnte er dies nicht händeln. Alex hat mir gezeigt, wie ich mit Willow arbeiten soll und ich denke, dass wir in den letzten Wochen riesige Fortschritte gemacht haben.
Und hier stehen wir heute
Ihr seht, wir haben einige Ursachen gefunden und versucht die Hürden zu beseitigen oder zumindest kleiner zu machen. Reiten tue ich immer noch nicht, aber wir verfolgen weiter den Weg und in diesem Fall ist der Weg wirklich das Ziel. Vermutlich hätte ich mit keinem anderen Pferd jemals so viel in so einer kurzen Zeit gelernt. Vielleicht wäre Willow bei einem anderen Trainer mit mehr Erfahrung, anderen Ansätzen, einer anderen Energie oder was auch immer schon lange ein Reitpferd. Aber das ist egal, schließlich ist er mein ganz persönliches Projekt und ich bin auf jeden kleinen Fortschritt unglaublich stolz – auf uns beide! Gerade dieses Wochenende (07./08.03.2020) war Alex wieder für einen Kurs bei uns. In einem der nächsten Blogbeiträge kann ich euch hoffentlich berichten, wie es lief, was Alex meint und wie wir weitermachen werden.
Und irgendwann wird die Frage: „Und warum reitest du noch nicht?!“ in Vergessenheit geraten, weil Willow und ich so unglaublich viele schöne Stunden im Sattel miteinander verbracht haben werden.
Lies doch mal …
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